Mobile Anwendungen als multimodale Medien zur Vermittlung vormoderner Artefakte. Die ‚Historisches Paderborn‘-App – ein interdisziplinäres Forschungs- und Lehrprojekt

Greulich, Markus
Universität Paderborn, Deutschland
markus.greulich@uni-paderborn.de

Oberthür, Simon
SICP – Software Innovation Campus Paderborn, Universität Paderborn, Deutschland
oberthuer@uni-paderborn.de

Karthaus, Nicola
Universität Paderborn, Deutschland
karthaus@ieman.de

Schmidt, Ariane
Universität Paderborn, Deutschland
arianes@mail.uni-paderborn.de

Wilk, Nicole M.
Universität Paderborn, Deutschland
nicole.m.wilk@upb.de

Stog, Kristina
Universität Paderborn, Deutschland
kristina.stog@uni-paderborn.de

Senft, Björn
SICP – Software Innovation Campus Paderborn, Universität Paderborn, Deutschland
bjoern.senft@uni-paderborn.de

Inhalt

1. Zusammenfassung der Sektion

Die Vermessung der Welt mittels digitaler Medien hat längst begonnen. Von der Durchdringung der Gesellschaft zeugen nicht nur Street View und weltweit verfügbare Satellitenaufnahmen, sondern auch Twitter und Facebook und nicht zuletzt die Auswirkungen auf die Wissenschaftskulturen, insbesondere auf die der Geisteswissenschaften. Hierfür hat sich der Begriff der Digital Humanities etabliert, der schillernd und komplex zugleich ist. Während zunächst historisches Material und Artefakte digitalisiert wurden, rückte in den letzten Jahren vor allem die Annotation von Digitalisaten und die Anlage und Aufbereitung von Datenbanken ins Zentrum des Interesses. Derzeit fächert sich das Spektrum der Digital Humanities weiter auf.

Anne Burdick, Johanna Drucker und andere (Burdick et al. 2012) weisen in ihrem intensiv rezipierten und vielfach zitierten Buch zum Konzept der Digital Humanities darauf hin, dass die Möglichkeiten und Chancen der Digital Humanities quasi einer Erweiterung der Geisteswissenschaften gleichkommen, die sowohl Werte, interpretative Praxis und Strategien der Bedeutung als auch die Ambiguitäten der menschlichen Existenz betreffen. Innerhalb der Sektion soll der Blick insbesondere auf zwei auch von Burdick und Drucker thematisierte Aspekte gelenkt werden: Zum einen ermöglicht die Erweiterung der Digital Humanities neue Wege der transmedialen Erforschung durch interdisziplinäre Kooperationen. Zum anderen darf nicht nur die Anwendung von digitalen Werkzeugen und Datenbanken im Fokus stehen, sondern auch Konzeption, Entwicklung und Nutzung können und müssen neue Wege beschreiten.

Innerhalb dieser Sektion soll die kooperative, interdisziplinäre und interfakultäre Konzeption und Entwicklung einer mobilen Anwendung exemplarisch diese neuen Wege und Prinzipien als eine wichtige Option kulturwissenschaftlicher und informatischer Verschränkung vorgestellt werden.

An der Universität Paderborn hat sich vor zwei Jahren eine Forschergruppe innerhalb des akademischen Mittelbaus gebildet, die ein auf mehrere Semester angelegtes interdisziplinäres und interfakultäres Forschungs- und Lehrprojekt entwickelt hat. An diesem Projekt, das im September 2015 mit dem Forschungspreis der Universität Paderborn ausgezeichnet wurde, sind derzeit die Fächer germanistische Mediävistik und Linguistik, Geschichte, Informatik und Kunstgeschichte beteiligt. Die ‚Historisches Paderborn‘-App (kurz HiP-App) zeigt die neuen Verknüpfungen, die durch das Konzept der Digital Humanities in den letzten Jahren proklamiert wurden, geradezu idealtypisch auf: Denn in der HiP-App ist die Informatik nicht lediglich Dienstleister für die Kulturwissenschaften und sind die Kulturwissenschaften nicht ausschließlich Content-Lieferanten für die Informatik. Vielmehr widmet sich das Projekt übergreifenden Forschungsfragen und ermöglicht darüber hinaus ebenso Individualforschung. In unserem Projekt fokussieren wir Fragestellungen, die sich aus der Konzeption, der Entwicklung und der Nutzung von digitalen Anwendungen (Apps) für mobile Endgeräte wie Smartphones oder Tablets ergeben.

Innerhalb dieser Sektion liegt der Fokus auf drei essenziellen Schwerpunkten des Projekts: (I.) auf dem Potenzial kooperativer Exploration und Konzeption mobiler Anwendungen für die Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte in einem außeruniversitären Kontext, (II.) auf multimodaler Kommunikation und Raumwahrnehmung und (III.) auf der evolutiven Software-Entwicklung unter Berücksichtigung einer mensch-zentrierten Entwicklung, die in der interdisziplinären Kooperation zwischen Kulturwissenschaften und Informatik innerhalb unseres Projektes verwirklicht werden kann.

2. Ins Leben gerückt. Zum Potential mobiler Anwendungen für die Vermittlung vormoderner Artefakte

Markus Greulich, Nicola Karthaus und Ariane Schmidt (Universität Paderborn)

Insbesondere die historischen Geisteswissenschaften, im ganz besonderen Maße die mediävistischen Fächer, gelten manchem als längst überholte Wissenschaftsdisziplinen, aus denen weder ein Wert für die Gegenwart noch für die Zukunft zu erwarten ist. ‚Das‘ Mittelalter gilt als gut erforscht, die Einträge in online-Ressourcen vermitteln ein abgeschlossenes Bild: Wir wissen, wie unsere Vergangenheit war. Doch immer wieder gibt es Irritationen: Da geistern Pergamentfragmente durch die Tagesschau, widmen sich Regisseur_innen mit großem Erfolg den Lebensgeschichten von Kaiser_innnen und Heiligen, zeigen internationale Serien, dass die Päpste des Mittelalters und der Renaissance ein nur begrenzt katholisches Leben pflegten und immer wieder geraten wertvolle Handschriften und Kunstobjekte des Mittelalters in den Fokus der Öffentlichkeit. So wie unsere Gegenwart nie als geschlossenes Bild vor uns stehen kann, so verändert sich auch ‚unser‘ Blick auf ‚das ‘ Mittelalter. Diesen Blick zu schärfen, vormoderne Artefakte lesbar zu machen und ihre eigene Geschichte als Teil ‚unserer‘ Geschichte, als Teil der Gegenwart erfahrbar zu machen – dies soll das interdisziplinäre Forschungs- und Lehrprojekt ‚Historisches Paderborn‘-App, kurz HiP-App, leisten.

Die HiP-App ist eine Anwendung für mobile Endgeräte, die auf ansprechende Weise detaillierte und wissenschaftlich sinnvoll aufbereitete Materialien zur selbstständigen historischen Erkundung der Stadt Paderborn anbietet. Sie wird derzeit von Mittelbau-Vertreter_innen der Universität Paderborn aus den Bereichen Informatik, germanistische Mediävistik und Linguistik, Geschichte und Kunstgeschichte entwickelt. Die HiP-App ist zugleich Forschungsgegenstand und -infrastruktur, die durch ihren grundlegend evolutiven Charakter vielfältige Forschungsfragen erzeugt (Burdick et al. 2012). Existierende Denkmäler dienen als Ausgangspunkt, um germanistische, historische und kunsthistorische Inhalte zu erläutern. Das interaktive Front-End der HiP-App, d. h. die für den Benutzer sichtbare Oberfläche, wird u. a. durch aktuellste Präsentationsformen historischer Artefakte im Bereich der Augmented Reality, d. h. der virtuell erweiterten Realität, gestaltet. Hierbei können Kunstwerke und andere Objekte nicht nur schriftlich oder mündlich erläutert, sondern auch singuläre Details hervorgehoben oder verlorene Sinnzusammenhänge visualisiert werden. Sogar der ursprüngliche Kontext eines Werkes kann so rekonstruiert werden. Auch ist es möglich, kunsthistorische Vergleiche zu ziehen, verwandte Werke zu zeigen, zusätzliche Materialien anzubieten und eine kulturhistorische Kontextualisierung vorzunehmen. Die neuen technischen Möglichkeiten der medialen Aufbereitung von Kulturgeschichte sind verbunden mit neuen sozialen Praktiken des Wahrnehmens an der Schnittstelle zwischen physischem und digitalem Raum (Buschauer / Willis 2013; Schüttpelz 2006). Die so gestalteten historischen Aussagen werden im Hinblick auf eine für die Gegenwartsorientierung relevante (stadt)geschichtliche Sinnbildung (Rüsen 1996) motiviert. Somit soll die Neugier der Nutzer_innen geweckt und durch eine veränderte Wahrnehmung des urbanen Umfelds eine weiterführende A useinandersetzung mit dem Paderborner Kulturraum gefördert werden.

Zentrales gemeinsames Forschungsanliegen ist es, am Beispiel der HiP-App Methoden, Prozesse und Analysen im Bereich der Digital Humanities zu entwickeln. Forschungsgegenstand und Grundlage hierfür bilden Genese, Entwicklung, Betrieb und Pflege der HiP-App, aber auch die kritische Reflexion der Kopplung physischer und digitaler Räume mithilfe mobiler Apps, die von der menschlichen Körperorientierung ausgehend den städtischen Raum diachron lesbar machen. So sollen durch Analyse der Dateneingabe etwa auch Aspekte der Software-Usability und der Entwicklung multimodaler Kommunikationsformate in den Blick genommen werden. Bezogen auf die Front-End-Entwicklung stehen verschiedene Formen des epistemologischen Präsentmachens durch Visualisierung, auditive Aufbereitung und weitere empirische Anknüpfung durch materielle Spurensuche auf dem Prüfstand (Kesselheim 2010). Die interdisziplinäre Kooperation lässt gleichzeitig Methoden der verschiedenen Disziplinen produktiv zusammenwirken. Entwicklung und Betrieb von Front- und Back-End finden aktuell in Form agiler Softwareentwicklung statt, in die die beteiligten Akteure aus den Kulturwissenschaften (insbesondere auch die Studierenden) fest eingebunden sind. Weitere Schwerpunkte liegen auf der leichten Nutzbarkeit von Technologien, beispielsweise einer einfachen Pflege der eingestellten Daten innerhalb eines Web-Back-Ends sowie einer flankierenden kulturwissenschaftlichen Reflexion der raumgenerierenden Potenziale neuer mobiler Systeme. Die Motivation des Projekts liegt somit auch darin, die aus der Informatik heraus entwickelten neuen Formen der Überblendung und Verkopplung physischer, kartographierter und medialer Räume in ihren produktiven Momenten der Verräumlichung (Habscheid / Reuther 2013) und der historischen Narrativierung kulturwissenschaftlich und experimentell (Back-End-Editieren, Nutzerverhalten) zu begleiten.

Im Rahmen der ersten Projektphase werden derzeit drei historische Stadtrundgänge zum Heiligen Liborius, zu Kaiser Karl dem Großen und zu Bischof Meinwerk von Paderborn entwickelt. Diese historischen Persönlichkeiten sind für die Genese und Entwicklung der Stadt Paderborn im Frühmittelalter von besonderer Bedeutung gewesen. Sie sind auch heute noch in vielfältiger Weise im Stadtbild präsent. Unter anderem wird dies in einem weiteren Rundgang thematisiert, der sich historischen Orts- und Straßennamen widmet, denn auch in der Namensgebung von Orten und Straßen artikuliert sich das kulturelle Gedächtnis. Ein zentrales Anliegen unseres Projekts ist es, den Stadtraum historisch erfahrbar zu machen. Ziel ist es, unter anderem die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen herauszuarbeiten: Die in der heutigen Präsenz als in sich geschlossene Einheit sichtbaren Objekte sollen als historisch gewachsen erfahren werden, ihre einzelnen Elemente als aus unterschiedlichen Epochen stammend.

Ein gutes Beispiel hierfür ist der Paderborner Dom (einführend: Quednau 2011), der sowohl von vielen Ortsansässigen als auch von Touristen mit seinen zahlreichen Artefakten und religiösen Objekten als gegebenes Bauwerk wahrgenommen wird. Dass dieses Bauwerk aber keinesfalls statisch, sondern vielmehr historisch gewachsen ist (u. a. Lobbedey 1986) und seit der Grundsteinlegung unter Karl dem Großen im Jahre 777 im Laufe der Jahrhunderte vielfältige bauliche Veränderungen, Erweiterungen und Überformungen erfahren hat, ist nur wenigen bewusst. Hier setzt die HiP-App an. Mit ihrer Hilfe ist es möglich, den Dom in seiner ganzen historischen Dimension und Vielschichtigkeit für den Betrachter sichtbar und erfahrbar zu machen. Als ein ganz konkretes Beispiel für die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigkeit bietet sich das Paradiesportal des Paderborner Doms an:

Ursprünglich als romanische Vorhalle konzipiert, wurde das Paradies im Zuge eines Umbaus des Westquerhauses mit einem Figurenportal ausgestattet. Dieses wies zunächst die Struktur eines rein ornamentalen Portals auf, dem in der Konzeptionsphase Sandsteinfiguren hinzugefügt wurden. Die monumentalen gotischen Gewändefiguren entsprechen dem zeitgenössischen Geschmack des 13. Jahrhunderts und orientierten sich an Skulpturen der französischen Gotik, beispielsweise denen der Kathedralen von Paris und Reims (Sauerländer 1971). Auf diese Weise 'modernisierte' also die Paderborner Dombauhütte das Hauptportal des Sakralbaus bereits im Hochmittelalter, und zwar in Anlehnung an die damals aktuelle und hochwertige Bauskulptur des französischen Königreichs. Die beiden romanischen Holzskulpturen des Portals, die den hl. Kilian und den hl. Liborius darstellen, stammen hingegen aus dem 12. Jahrhundert, wurden jedoch erst deutlich später, nämlich 1815, an den Portaltüre n angebracht. Diese Veränderung und Ausgestaltung des Domportals eignet sich in geradezu idealer Weise, um den Nutzer_innen mit Hilfe von Augmented Reality innerhalb des Front-Ends die historische Dimension nicht nur des Portals, sondern exemplarisch auch des gesamten Doms vor Augen zu führen.

Für interessierte Nutzer_innen hält dieHiP-App aber auch vertiefende Informationsangebote bereit: So z. B. erläuternde Texte zu einzelnen Skulpturen des Portals, die etwa typische, in der App farbig hervorgehobene Attribute der Heiligen erklären, oder aber kulturhistorische Einordnungen mit Blick auf die Nutzung (Tack 1958) oder die religiöse Praxis (Bawden 2014). Auch können Brücken und Verbindungen zwischen verschiedenen Fachdisziplinen geschlagen werden: So illustriert die zentrale Marienfigur des Trumeaus die hochmittelalterliche Marienverehrung anhand des Melker Marienlieds, eines wenig bekannten Textes aus dem 12. Jahrhundert. Die Nutzer_innen erfahren hier nicht nur Wissenswertes zum Text, sondern sehen mit Hilfe der App auch - vielleicht erstmals - eine mittelalterliche Handschrift. Dass Maria im Melker Marienlied als Himmelspforte (porte des paradyses) bezeichnet wird, schlägt dabei eine Brücke zur Portalsymbolik und gibt - über die Einzelbetrac htung des Portals hinaus - einen Einblick in die Kulturgeschichte und spezieller noch in die Liturgie. War die Nutzung des Portals - u. a. als erzbischöflicher Zugang und als Gerichtsort - bereits zur Bauzeit vielschichtig, so erfuhr sie im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte noch weitere Veränderungen und Ergänzungen. So bildet das Domportal etwa noch heute den monumentalen Rahmen für die feierliche Liborius-Prozession: Sie erinnert alljährlich an die Translation der Gebeine des Heiligen aus dem damals westfränkischen, heute französischen Le Mans und an ihre Ankunft in Paderborn im Jahre 836. Darüber hinaus werden in der App regionale und überregionale Vergleichsobjekte (Sauerländer 1971; Lobbedey 1999) vorgestellt, die eine kunsthistorische Einordnung in die Portalskulptur geben. Damit macht die App eben gerade nicht nur die konkrete Stadt- und Baugeschichte Paderborns anschaulich erlebbar, sondern greift darüber hinaus. Es geht gerade auch darum, den Nutzer_innen der stadtgeschichtlichen App ein exemplarisches Wissen zu vermitteln, durch das Sehgewohnheiten verändert und historische Artefakte selbständig les- und erfahrbar werden.

3. Digitalisierung von geschichtlichem Wissen im Raum und raumgebundener Erinnerungskultur – am Beispiel von Straßennamen

Kristina Stog (Paderborn)/ Nicole M. Wilk (Paderborn)

3.1. Idee: Vervielfältigung der Lesarten durch neue Visualisierungsmethoden

Wissensarten sind an Darstellungsformate gebunden. Informationen über das Medienmaterial, seine Gestaltung, Beschaffenheit und Platzierung gehen bei der Verarbeitung von Daten im Zuge der Digitalisierung größtenteils verloren oder werden isoliert vom Textkorpus z. B. in Form von Metadaten gespeichert. Dieser Verlust wird in den interpretierenden Disziplinen oft in Kauf genommen, da quantitativ motivierte Fragestellungen bereits an diese Reduktionssituation angepasst sind. Doch es setzt sich gleichzeitig in linguistischen und (sozial)semiotischen Forschungskontexten die Erkenntnis durch, dass Wissen immer situiertes Wissen in materiellen und institutionellen Umgebungen ist (Fix 2008), und dass mit Blick auf multimodale Gebrauchsmuster die Wahl der semiotischen Ressource (O'Halloran 2004) und nicht zuletzt die Raumbasiertheit von Kommunikation semantische und Diskurs strukturierende Effekte haben können (Habscheid / Reuther 2013).

Kaum ein „Text“ ist so eng mit seinem Ort verknüpft wie ein aufgedruckter „Name“. Am Beispiel der Namen für Straßen, Gebäude und Plätze zeigen wir in unserem Beitrag Digitalisierungsmöglichkeiten auf, die die Verknüpftheit von stadtgeschichtlichem Wissen mit Orten auf (technisch) verschiedene Weise modellieren. Hierfür wird mit dem Smartphone ein mobiles Instrument gewählt, das über eine App Schnittstellen zwischen materiellem und digitalem Raum erzeugt (Weber 2012), um Stadtgeschichte in unterschiedlichen Deutungsrahmen (visuell, auditiv) verfügbar zu machen. Der Raum erweist sich dabei als interaktive Ressource (Hausendorf / Mondada / Schmitt 2012), auf die die kulturellen Sinnangebote ausgerichtet sind und die sie selbst als solche hervorbringen (reflexiver Raumbegriff).

Mit den neuen technologischen Verfahren erschöpft sich die interaktive Dimension nicht in der Aufmerksamkeitslenkung durch schriftbasierte oder bildliche Information, mithilfe standortbezogener Informationen durch Location-based Services kann Nutzer_innen vielmehr an konkreten Orten durch eine mittelalterliche Geräuschkulisse oder eine visuelle Anreicherung des Stadtbilds ein Einstieg in historische Szenarien geboten werden.

3.2. Hintergrund: Straßennamen als Kondensate kulturellen Wissens und der Inanspruchnahme von Geschichte

Namen von Straßen, Plätzen und anderen Örtlichkeiten (Toponyme) dienen der Orientierung. Sie erschließen den Raum und strukturieren ihn physisch und historisch, zugleich können Toponyme als Verweise auf die Geschichte sowie auf das Geschichtsbewusstsein einer Stadt gelesen werden. Anders als Denkmäler, die aufgrund ihrer erinnernden Funktion bewusst aufgesucht werden, stellen sie – in ihrer Sekundärfunktion – „Medien kultureller Erinnerung“ (Pöppinghege 2005: 10) dar, die von den Rezipient_innen im urbanen Raum täglich genutzt werden. Vor allem die frühen Orts- und Straßennamen, die aufgrund von gemeinsamen Gewohnheiten, Bedürfnissen oder Wahrnehmungen in der Interaktion (bereits im Mittelalter) gewachsen sind (Fuchshuber-Weiß 1996) geben Hinweise auf Vergangenes, im heutigen Stadtbild möglicherweise nicht mehr Sichtbares: Geographische bzw. topographische Merkmale oder Besonderheiten des Ortes, nennenswerte Gebäude in der Umgebung, eine bestimmte Nutzung des Bezugsbereiches (wie etwa dort angesiedeltes Gewerbe) oder soziokulturelle Tatbestände vor Ort (Fuchshuber-Weiß 1996).

Namen stellen dabei keinen schlichten Spiegel tatsächlicher Gegebenheiten dar, sondern geben Einblick in die kollektiven Sicht- und Vorstellungsweisen ihrer Nutzer und bilden „in ihrer auswählenden und akzentuierenden Thematisierung des Stadtraumes Dokumente einer Mentalitätsgeschichte des Sehens“ (Glasner 1999: 320). In dieser Hinsicht gibt auch die heutige Benennungspraxis Aufschluss über das Geschichtsbewusstsein einer Stadt: So spiegelt sich etwa in der Vergabe von Namen, die sich auf Historisches „vor Ort“ beziehen, auch das „kultur- und alltagsgeschichtliche Verständnis“ (Pöppinghege 2005: 10) einer Stadt. Lokalen Ereignissen, Personen, aber auch Intentionen oder Vorstellungen, mit denen sich eine Stadt identifiziert, werden in Form von Straßen(-namen) begehbare „Zeichen gesetzt“.

In der Erarbeitung toponymischen Wissens ergibt sich eine Herausforderung daraus, dass verschiedene Wissenssorten zusammenkommen: Legendenbildungen, Volksetymologien, Geschichtswissen der Historiker und ein zeitabhängiges Geschichtsbewusstsein, das teilweise mit einer intensiven Geschichte der Umbenennung einhergeht. Beobachtungen zur thematischen Verarbeitung von Namensgebung und Namensgeschichte in bestehenden Apps zur Stadtgeschichte belegen das allgemeine Bedürfnis nach „Lesbarkeit“ von urbanen Räumen: Namen werden als Spuren geschichtlicher Zusammenhänge aufgeschlossen. Doch wie werden durch sie Diskurse räumlich materialisiert? Wie können Wissenssorten auch durch mediale Operationen reflektiert werden? Das Beispiel der in Entwicklung befindlichen 'Historisches Paderborn'-App soll aufzeigen, wie die doppelte Situiertheit des stadtgeschichtlichen Wissens in einem metakommunikativen und in einem räumlichen Sinne durch Visualisierungstechniken darg estellt werden kann.

3.3. Ausgangslage: Typonyme in bisherigen Kommunikationsangeboten und Apps zur Stadtgeschichte

Um in mobilen Geräten Geschichtliches auf neue experimentelle Weise darzustellen, müssen zunächst die traditionellen Repräsentationen geschichtlichen Wissens im Stadtraum hinsichtlich ihrer raumstiftenden Qualitäten erschlossen werden. Straßen- und Gebäudenamen haben trotz des in ihnen sedimentierten impliziten Wissens über Ereignisse der Stadtgeschichte für viele Bewohner und Stadtbesucher einen primär pragmatischen Sinn und dienen der räumlichen Orientierung. Selbst Legenden und Volksetymologien, die sich um die Namen im Stadtraum ranken, drohen verloren zu gehen. Auf diese Situation reagieren ortsfeste und ortsgebundene digitale Kommunikationsangebote zur Stadtgeschichte, die den urbanen Raum als Medium des kollektiven Gedächtnisses und mit ihm eine völlig neue städtische Erzählkultur etablieren. In einer medienlinguistischen Studie zur Musterhaftigkeit ortsfester Kommunikationsangebote zur Stadtgeschichte konnten zwei wesentliche Tendenzen in der Entwicklung internetbasierter Formate und Stadtgeschichts-Apps festgestellt werden: der Ausbau einer dialogischen Sequenzierung stadtgeschichtlichen Wissens und die Narrativisierung urbaner Erzählsequenzen („Histörchen“). Ohne Angabe von Quellen und ohne Verweise auf die Deutungsvielfalt der historischen Dokumente werden Brauchtümer und Motive sprachlich so dargelegt als seien die Namen Repräsentationen einer zu allen Zeiten und eindeutig herauszulesenden historischen Faktizität (vgl. Wilk 2015). Der Einsatz multimodaler Darstellungsformen verspricht hier Möglichkeiten, Namen und Namenswandel exemplarisch in einem Spurkonzept zu modellieren (vgl. Müller 2012), das Typonyme im linguistischen Sinn weniger als objektive Zeugen eines geschichtlichen Geschehens aufschließt als vielmehr anhand der Namensgebung den Kampf um historische Lesarten und ihre Orientierung für die Zukunft verdeutlichen. Aufgabe der Medienlinguistik ist es dabei, anhand konkreter Textentwicklunge n zu beschreiben, wie unter Nutzung verschiedener Daten aus den Visualisierungen eines durch historische Szenarien erweiterten Stadtraums unterschiedliche historische Interpretationen hervorgehen.

3.4. Das Beispiel Paderborn – Motiviertheit und sozialer Sinn hinter den Spuren

Wie Namen als Spuren von Vergangenem im heutigen Stadtbild gelesen werden können, lässt sich anhand einiger Straßennamen in der Paderborner Innenstadt beispielhaft zeigen: Sie können Hinweise auf das historische Stadtbild geben, wie etwa der Name Grube, der als einer der ältesten Straßennamen in der Altstadt auf die heute nicht mehr sichtbare Grube, die nach Auffüllung eines Steinbruchs südlich der Domburg im 12. Jahrhundert zu sehen war (vgl. Liedtke 1999: 101), verweist. Namen wie Im Düstern oder Krummer Ellenbogen geben darüber hinaus Einblicke in die Wahrnehmung des städtischen Raums aus der Perspektive ihrer Nutzer_innen. Neben Anwohnergruppen (Weberberg) spiegeln sich in Namen bestimmte Nutzungsweisen von Straßen (wie etwa Kühe durch die Kuhgasse zur Tränke an die Pader zu treiben (vgl. Liedtke 1999)). Auch Spuren des Niederdeutschen, das als gesprochene Alltagssprache in Paderborn kaum noch existiert, finden sich in Namen wie Abtsbrede (Brede bezeichnet einen breiten Acker) oder Börnepader (börnen: tränken).

Nach Nübling (2012: 244) lassen sich aus diesen primären Straßennamen, die in engem Zusammenhang mit den Straßen, die sie bezeichnen, entstanden sind, „Topographie und Sozialgeschichte einer Stadt hervorragend rekonstruieren“. In einer App zum Historischen Paderborn bilden sie nicht nur einen Anknüpfungspunkt für die Auseinandersetzung mit dem historischen Raum, sondern auch mit den kollektiven Sicht- und Vorstellungsweisen ihrer Nutzer_innen. Dies gilt auch für die sekundären Straßennamen, die administrativ vergeben werden: Die Wahl der regionalen und überregionalen Personen und Ereignisse, nach denen eine Stadt ihre Straßen benennt, gibt Aufschluss über ihr (Stadt-)Geschichtsbewusstsein (vgl. Pöppinghege 2007). So deutet etwa die Benennung der Straßen eines Viertels in Paderborn, in dem neben der Karlsstraße und dem Karlsplatz auch Albin-, Gerold-, Einhard- und Widukindstraße auf historische Zusammenhänge und Personen im Umfeld Karls des Großen verweisen, auf die Bedeutung hin, die dieser im Selbstverständnis der Stadt einnimmt.

Politische und gesellschaftliche Umbrüche werden vor allem in der Auseinandersetzung mit den Umbenennungen von Straßen oder Plätzen sichtbar. In ihnen spiegeln sich die Vorstellungen, Ideen und Ideologien, zu deren Verbreitung Toponyme seit dem 18. Jahrhundert genutzt werden (vgl. Fuchshuber-Weiß 1994: 1472). Deutlich wird dies am Beispiel des Le-Mans-Walls in Paderborn, der bis 1938 als Wilhelmstraße, in der Zeit des Nationalsozialismus als Horst-Wessel-Wall und nach 1945 erneut als Wilhelmstraße bezeichnet wurde, bis 1967 mit der Städtepartnerschaft die Umbenennung nach der französischen Stadt Le Mans folgte (vgl. Liedtke 1999: 151). Mit der Benennung, die sich nun zugleich an mittelalterlichen Ereignissen orientierte, wurde der Straße – als Weg, über den 836 der Zug mit den Reliquien des Hl. Liborius von Le Mans in Richtung Dom geführt haben soll – somit auch eine größere Bedeutung innerhalb der Stadtgeschichte Paderborns zugesprochen.

In derHip-App lässt sich die Geschichte dieser Umbenennung und der Vereinnahmung historischer Persönlichkeiten für die städtische Identität multiperspektivisch visualisieren, so dass anschaulich wird, wie zu verschiedenen Zeitpunkten Historisches in städtischen Strukturen repräsentiert (worden) ist. Diese Repräsentationen der historischen Traditionen schließen zudem die Konsequenzen für das (Geschichts-)Bild der gegenwärtigen Stadt und der Stadt der Zukunft auf.

Hierbei sollen epistemischen Effekte, d.h. insbesondere komplexitätsreduzierende Wissenseffekte verschiedener Darstellungsweisen (Karten, archäologische Modelle, Einblendungen) exemplarisch erfasst werden. Diese variieren mit der Auswahl der Kategorien, der Relationierung markanter Ereignisse und nicht zuletzt der Herstellung von Bezügen zum materiellen Raum. Die Differenzierung von Erzählzeit und erzählter Zeit reflektiert dabei die Variabilität historischer Sinnstiftung: So können historische Figuren (Könige, Ritter, Pilger etc.), die z. B. mit Pferdegetrappel an ausgewählten Stellen des Stadtrundgangs die Wege der Nutzer_innen kreuzen und damit historische Situationen auf dem Hellweg simulieren, eine mittelalterliche Vergangenheit einerseits behaupten. Andererseits lassen sie sich anschließen an eine stadttypische Rezeptionsgeschichte mittelalterlicher Quellen und Schriften. In der (zusätzlichen) Darstellung gewandelter städtischer Identitätsdiskurse z. B. über kartografierte Wissensbezüge (Bezug zum Mittelalter, zur niederdeutschen Varietät, zur Geografie etc.) lässt sich ein jeweils zeitabhängiges Geschichtsbewusstsein veranschaulichen.

4. Auf dem Weg zu einer experimentellen und evidenzbasierten Softwareentwicklung in den Digital Humanities

Björn Senft, Simon Oberthür – SICP – Software Innovation Campus Paderborn, Universität Paderborn

Das interdisziplinäre Projekt ‚Historisches Paderborn'-App, kurz HiP-App, ist ein gutes Beispiel für die sich verändernden Anforderungen an den Software-Entwicklungsprozess im DH-Kontext bzw. im Kontext des digitalen Wandels (Digital Transformation). Klassische Entwicklungsmodelle wie das Wasserfallmodell wurden für Situationen entworfen, in denen Funktionsumfang und Aufbau der Software zu Beginn der Entwicklung relativ genau festgelegt werden können.

Für die HiP-App ist dies jedoch aus mehreren Gründen nicht möglich. Aufgrund der Verwendung neuer Technologien in der App und der Raum- und Zeitgebundenheit der Inhalte ergeben sich vollkommen neue Wege, mit Wissen umzugehen. Das Dilemma ist nicht gerade selten: Informatiker verfügen über das Wissen um moderne Technologien, Kulturwissenschaftler verfügen über das Wissen der zu vermittelnden Inhalte. Ein sinnvoller und innovativer Einsatz neuer Technologien kann aber nur in enger Verzahnung mit konkreten Inhalten erfolgen. Oft kann auch eine Verzahnung vorab nicht hinreichend beurteilt werden, sondern muss beispielsweise experimentell bewertet werden. Die sinnvolle Anwendung neuer Technologien ist deshalb ein Forschungsdesiderat und muss durch geeignete Entwicklungsmethoden und -abläufe unterstützt werden.

Weil in unserem Kontext die Anforderungen vor der Implementierung nicht genau spezifiziert werden können, muss erforscht werden, welche Faktoren zielführend für die Lösung der zu bewältigenden Entwicklungsaufgabe sind. Da die Informatik mit dieser Situation relativ häufig konfrontiert ist, wurden hierfür Methoden wie etwa die agile Entwicklung gebildet. Das ist allerdings nur ein möglicher Ansatz zur Lösung dieses Problems, da die Methoden nur einen lockeren Rahmen bieten und nicht genauer darauf eingehen, wie mit der Software experimentiert werden kann, geschweige denn, wie eine systematische Extraktion und Evaluation in diesem Kontext aussehen könnte. Sinnvoll wäre beispielsweise ein Softwareleitstand, der Experimente mit verschiedenen Nutzergruppen (Betatester, Endnutzer, Experten, etc.) bzw. Ebenen (Simulation, Menschen, etc.) ermöglicht. Erschwerend kommt dabei hinzu, dass Prozesse verschiedener Domänen (Kulturwissenschaften, kulturelle Institutionen, etc.) in den eigentlichen Softwareentwicklungsprozess integriert werden müssen.

4.1. Lösungsansatz

In unserem Projekt entwickeln wir ein mensch-zentriertes Prozessmodell (siehe Abbildung 1), dass das DevOps-Prinzip (Hüttermann 2012; Sharma / Coyne 2015) mit dem Führungskreislauf des St. Galler Management Modells (Ulrich / Krieg 1974) kombiniert, um so die vielschichtige Verzahnung von Technologien, Inhalten, Domänen und Akteuren (Informatiker, Kulturwissenschaftler, Usability-Experten, Nutzer, etc.) zu gewährleisten. Die Grundidee hinter diesem Modell ist die Aufteilung in generellere Phasen, um so Verzahnungspunkte für die unterschiedlichen Prozesse zu definieren. In der Ermittlungsphase werden mit Methoden der Informatik und der Kulturwissenschaft Daten aus der Realität (Verwendung des Prototyps, Interviews, Unit-Tests, ‚ausgelieferte‘ Software, etc.) ermittelt, um so ein Lagebild zu erstellen, das die Grundlage für die Weiterarbeit in der Strategie- und Analysephase bildet. In dieser kommen die unterschiedlichen Akteure zus ammen und analysieren gemeinsam die ermittelten Daten und beraten über die zukünftige Strategie, die in der Realisierungsphase (Implementierung, Entwickeln eines konkreten Interviews, etc.) umgesetzt und anschließend erneut in der Realität eingesetzt und evaluiert wird. Wichtig ist dabei - da es kein definiertes Ende gibt -, die einzelnen Phasen kontinuierlich und iterativ zu durchlaufen, da wir nach Drucker et al. (2012) davon ausgehen, dass sich die Software, aufgrund der hieraus entstehenden neuen Erkenntnisse, ständig weiterentwickeln wird:

„Digital Humanities work embraces the iterative, in which experiments are run over time and become objects open to constant revision. Critical design discourse is moving away from a strict problem-solving approach that seeks to find a final answer: Each new design opens up new problems and—productively—creates new questions.“ (Drucker et al. 2012: 22).

Abb. 1: Verwendetes Prozessmodell der HiP-App-Entwicklung im Digital Humanities Kontext

4.2. Erfahrungen und Erkenntnisse

Der bisher entwickelte Teil des Lösungsansatzes basiert auf den Erfahrungen, die bislang bei der Entwicklung der HiP-App gemacht wurden. Eine studentische Projektgruppe der Informatik entwickelte in stetiger Rückkopplung mit den Kulturwissenschaften das Backend zum Einpflegen der Daten. Die Studierenden entwickeln die Software nach Ansätzen der agilen Softwareentwicklung (Beck et al. 2001) und nach dem DevOps-Prinzip (Hüttermann 2012; Sharma / Coyne 2015), die für uns Schlüsselfaktoren sind, um einen kontinuierlichen mensch-zentrierten Softwareentwicklungsprozess (Mayhew / Follansbee 2012) mit explorativen Möglichkeiten zu erreichen.

Dass eine enge Kooperation von Informatik und Kulturwissenschaften im Sinne der Digital Humanities notwendig ist, hat sich bereits in den ersten Arbeitsphasen des Projekts bestätigt. Wie bereits erwähnt, können sinnvolle Anwendungen nur in enger Verzahnung von Inhalten und Technologien entstehen. Informatik und Kulturwissenschaften müssen deshalb interagierend Daten auswerten und die Strategie anpassen. Diese Erkenntnis ist eine Quintessenz aus unserer Projekterfahrung.

Den involvierten Kulturwissenschaftlern fehlten anfangs Bewusstsein und Wissen über die notwendige Spezifizität, über den Realisierungsaufwand und auch über die Nachhaltigkeit der Softwareentwicklung, die für eine zielgerichtete Entwicklung qualitativ hochwertiger Software jedoch essenziell sind. Die beteiligten Informatiker verloren sich dagegen allzu schnell in technologischen Herausforderungen anstatt die Nutzeranforderungen zu fokussieren. Es bedarf deshalb eines gemeinsamen Verständnisses und einer gemeinsamen Strategie, welche Merkmale einer Anwendung welche Priorität haben und wann diese implementiert werden sollen oder aber mit Hilfe anderer Frameworks zu realisieren sind. Um wichtige technologische Entscheidungen treffen zu können, müssen sich die Anforderungen herauskristallisieren, die sich im Detail aus den Prozessen und Inhalten ergeben. Daher erscheint uns ein Verhältnis Dienstleister (Informatik) und Content-Lieferant (Kulturwissenschaften) für die Entwicklung von Software im Kontext von Digital Humanities wenig sinnvoll, ja sogar kontraproduktiv.

Festzuhalten ist, dass unser Prozessmodell möglichst kurze Durchläufe erlaubt, um so frühzeitig neue Erkenntnisse zu gewinnen, die dann zeitnah in die weitere Softwareentwicklung einfließen können. Die kurzen Wiederholungen im Prozessmodell helfen, nicht-verbalisierbares Nutzerwissen verfügbar zu machen. Solches Wissen ist beispielsweise grundlegend, um die Lösungen bestmöglich auf die Bedürfnisse der Nutzer auszurichten.

Unser Lösungsansatz ermöglicht ein Experimentieren, das nicht nur auf Softwareprototypen bezogen ist. Beim gemeinsamen „Design Thinking“ (Uebernickel et al. 2015) von Informatikern und Kulturwissenschaftlern haben wir die Erfahrung gemacht, dass erst und vor allem das häufige Evaluieren und Experimentieren dabei hilft, sich von technologischen und organisatorischen Restriktionen zu lösen und stattdessen sinnvolle Anwendungen zu identifizieren. Es müssen zudem technologische Konzepte entwickelt werden, die sowohl ein Experimentieren mit verschiedenen Varianten als auch eine Evolution von Software-Architektur und -Design und ein Reagieren auf fehlerhaften Code (Resilience) erlauben.

4.3. Abgrenzung vom aktuellen Stand der Forschung und Technik

Bisherige Ansätze in der Softwaretechnik sind vor allem mit Blick auf das Extrahieren und Experimentieren unzureichend. Ein klassisches Entwicklungsmodell in der Informatik ist das Wasserfallmodell (Royce 1970), in dem bestimmte Phasen wie Anforderungserhebung, Systementwurf und Implementierung lediglich einmal durchlaufen werden. Dieses Modell ist vor allem für solche Entwicklungen geeignet, die bereits existente Prozesse digitalisieren sollen. Wenn jedoch neue digitale Prozesse entwickelt werden sollen, wirkt sich bei diesem Modell nachteilig aus, dass Fehlentwicklungen erst am Ende des Prozesses sichtbar werden, also erst dann, wenn die Software als Ganzes bereits fertig ist. Um schneller auf sich ändernde Anforderungen reagieren zu können, wurden deshalb agile Methoden entwickelt, deren Rahmen mithilfe des agilen Manifest (Beck et al. 2001) definiert werden. Zur Grundidee der agilen Softwareentwicklung gehören kurze, feste Iterationen mit de m Ziel, möglichst frühzeitig lauffähige Produktinkremente auszuliefern. So können öfter Rückmeldungen vom Kunden eingeholt und Fehlentwicklungen frühzeitig erkannt werden. Vor allem aber ist dieser Prozess auch transparenter für den Kunden, da er regelmäßig Fortschritte sieht. Da dieser Ansatz davon ausgeht, dass man zwangsläufig ‚scheitern‘ wird, soll das Scheitern im Kleinen stattfinden, um so Potenzierungseffekte zu minimieren. Die agilen Methoden haben jedoch den Nachteil, dass sie lediglich einen Rahmen bilden und keine Spezifika bieten, wie z. B. konkret experimentiert werden kann oder soll. Als Anforderungen werden im agilen Ansatz Scrum User Stories verwendet, die aus Nutzersicht die gewünschten Funktionalitäten beschreiben. Um eine gute Produktqualität zu erreichen, muss Scrum (Sutherland / Schwaber 2007) mit klassischen Ansätzen kombiniert werden.

Im Gegensatz zu den hier erläuterten Ansätzen bietet das von uns vorgestellte Modell durch den ständig wiederkehrenden Dialog der domänenübergreifenden Akteure sowie das Experimentieren die Möglichkeit, die Entwicklung neuer Methoden und Werkzeuge systematisch zu unterstützen. Gestützt von Prozessen können so neue Technologien experimentell auf ihre Anwendbarkeit untersucht werden. Ein Aspekt, der sich aktuell in der Projektarbeit der HiP-App bereits bestätigt hat.

4.4. Übergeordnete offene Fragestellungen

In ihren Anfängen zeichneten sich die Digital Humanities hauptsächlich durch die Übertragung bewährter Konzepte der Informatik aus. Es ist aber zu fragen, ob die Informatik nicht stärker von den Kulturwissenschaften lernen kann? Wäre es für die Informatik beispielsweise nicht hilfreich, verstärkt auch soziologische Methoden (qualitative Methoden wie Experteninterviews, quantitative Verfahren, etc.) für den Prozess der Anforderungserhebung und des Experimentierens zu adaptieren? Wie aber könnte das in der Softwareentwicklung praktikabel und systematisch angewandt werden? Diese offenen Fragestellungen gilt es weiterhin im Auge zu behalten.

Appendix A

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