Kollaboratives Schreiben gestern, heute und morgen: Nutzen und Grenzen eines Visualisierungs- und Analysemodels aus der digitalen Literaturforschung

Zimmermann, Heiko
Universität Trier, Deutschland
heiko.zimmermann@uni-trier.de

Inhalt

"Journale sind eigentlich schon 'gemeinschaftliche' Bücher. Das Schreiben in Gesellschaft ist ein interessantes Symptomn — das noch eine große Ausbildung der Schriftstellerey ahnden läßt. Man wird vielleicht einmal in 'Masse' schreiben, denken, und handeln — Ganze Gemeinden, selbst Nationen werden Ein Werck unternehmen." (Novalis 1965: 645).

Sieht man vom gemeinschaftlichen Schreiben aktueller 'Wirklichkeiten' in Facebook ab, ist Novalis' Prophetie weit entfernt von kreativen Schreibprozessen der Gegenwart. Dennoch hat es unterschiedlichste Formen kollaborativen Schreibens seit jeher gegeben. Dieses Schreiben hat die Literaturkritik und -wissenschaft oft vor Probleme gestellt (vgl. Ede / Lunsford 1990). In den letzten Jahren haben die Möglichkeiten des vernetzten Schreibens am Computer neue Formen und Dimensionen kollaborativer Schreibenprozesse gefördert. Werke wie die Enzyklopädie Wikipedia, den aus Fanfiction entstandenen Bestseller-Roman Shades of Grey, das multimediale Universum um die MTV-Serie Teenwolf oder auch das bisher größte digitale Romanprojekt A Million Penguins wären ohne den Rechner im Internet unmöglich gewesen.

Zur selben Zeit ist in der englischsprachigen Welt das Genre der digitalen Literatur aufgekommen, welches die Literaturwissenschaft ebenfalls vor große Herausforderungen stellt. Ein Hauptproblem ist das der Rekonfigurationen von Autor- und Leserschaft, das mittels poststrukturalistischer Metaphern (Landow 2006; Simanowski 2002; Winko 1999) nicht hinreichend beschrieben werden konnte. Auch Zwischenwesen wie das Modell des Wreaders, also des schreibenden Lesers, konnten die Abweichungen von tradierten Rollen in der Literaturproduktion und -rezeption nicht sinnvoll modellieren. Aus den selben Gründen funktionieren auch buchgeschichtliche Modelle des Literaturmarktes wie das von Robert Darnton (1982) nur bedingt, um die Wirklichkeit digitaler Literatur zu beschreiben.

Um das Problem der Autor- und Leserschaft und unzureichender tradierter Modellierungen zu lösen, wurde das visuelle Beschreibungs- und Analysemodell des textuellen Handlungsraums entwickelt (Zimmermann 2015a). Es basiert auf dem Texton-Skripton-Modell von Espen Aarseth (1997: 62-65) und ordnet allen am Text handelnden Akteuren einen eindeutigen Platz im Handlungsraum zu, der abhängig ist von der Art und Weise und vom Zeitpunkt ihres Handelns am Text im Kontinuum von Produktion und Rezeption (vgl. Abbildung 1). Anwendungen dieses Modells waren bisher auf englische digitale Literatur beschränkt und haben in diesem Feld ergeben, dass es bestimmte Konstellationen von Handelnden in der Literaturproduktion und -rezeption, beispielsweise Foucaults Idee einer beherrschenden Stellung der Autorfunktion in literarischen Diskursen, in Frage stellt (Zimmermann 2015b).

Abb. 1: Beispiel eines TeKEU-Diagramms eines textuellen Handlungsraums: Toby Litts Werk Slice (Zimmermann 2015a: 186).

Der vorgeschlagene Vortrag soll gleichsam mehrere Brücken zwischen akademischen Disziplinen und literarischen Traditionen schlagen. Das Modell des textuellen Handlungsraums, das aus dem Feld der elektronischen Literaturforschung - und damit aus einem Kerngebiet der digitalen Geisteswissenschaften, sofern diese nicht allein über Methoden und Werkzeuge definiert werden - stammt, soll nicht nur auf digitale englischsprachige Literatur angewendet werden, sondern auch auf nicht-digitale deutsche und englischsprachige literarische Texte der Gegenwart und des 20. Jahrhunderts. Damit werden Verbindungen zwischen verschiedenen Literaturen (zeitlich, sprachlich) und akademischen Feldern (digitale Literaturforschung, digitale Geisteswissenschaften, traditionelle Literaturwissenschaft) hergestellt.

Nachdem das Modell im Vortrag kurz vorgestellt wurde, fragt dieser nach den Formen von Autor- und Leserschaft ausgewählter kollaborativ geschriebener Texte, nach Möglichkeiten solches Schreiben sinnvoll zu klassifizieren und danach, ob sich Rückschlüsse auf die (kommerzielle) Verwertbarkeit ebendieser Literatur ziehen lassen. Flankierend wird damit eine Fallstudie für die Permeabilität traditioneller Literaturanalyse für Modelle aus dem Bereich der digitalen Literaturwissenschaft vorgestellt, und es werden die Potentiale und Grenzen einer derartigen Visualisierung literarischen Schaffens aufgezeigt.

Appendix A

Bibliographie
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  3. Darnton, Robert (1982): “What Is the History of Books?” in: Dædalus 111, 3: 65-83.
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  12. Landow, George P. (2006): Hypertext 3.0. Critical Theory and New Media in an Era of Globalization. Baltimore: Johns Hopkins UP.
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  21. Simanowski, Roberto (2001): “Autorschaft in digitalen Medien: Eine Einleitung” in: Text + Kritik 152: 3-21.
  22. Simanowski, Roberto (2002): Interfictions. Vom Schreiben im Netz. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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  25. Zimmermann, Heiko (2015a): Autorschaft und digitale Literatur. Geschichte, Medienpraxis und Theoriebildung. Trier: WVT.
  26. Zimmermann, Heiko (2015b): “Electronic Literature as a Means to Overcome the Supremacy of the Author Function.”, in: ELO 2015 - The End(s) of Electronic Literature, Bergen, Norwegen.